Perfektion

Warum Perfektion vielleicht auch ein Makel ist

Perfektion

Meine Familie und ich haben uns entschlossen, in ein paar Wochen einen Welpen in unsere Familie aufzunehmen. Vor ein paar Tagen habe ich den Wurf wieder einmal besuchen dürfen. Während der Züchter und ich die schlafenden Hundekinder beobachteten, erzählte er mir, dass unsere Hündin die einzige im Wurf sei, die keine Wolfskrallen und auch keine weißen Flecken im Fell hätte. „Sie ist perfekt“ sagte er zu mir. Als ich seine Worte hörte, bemerkte ich innerlich einen Widerstand und antwortete prompt, dass sie sowieso perfekt für mich sei, ob mit oder ohne weiße Flecken im Fell. Ich hätte mir sogar den ein oder anderen Fleck gewünscht, weil sie das einzigartig gemacht hätte. 

Mir ging nach diesem Gespräch immer wieder die Frage durch den Kopf, was „perfekt sein“ eigentlich bedeutet. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke muss ich feststellen, dass ich den „unperfekten“ Dingen immer lieber den Vorzug gegeben habe, sie interessanter und anziehender fand. Dinge, die jeder hatte, oder wenn sich eines dem anderen ähnelte, empfand ich immer als langweilig. Ich wollte meistens etwas Anderes als die anderen, etwas Individuelles. Sei es Schmuck, der nur für mich angefertigt wurde, Klamotten, die nicht von der gerade aktuellen Marke waren oder ich arrangierte einen Blumenstrauß in der Vase wild durcheinander und nicht so, wie der Florist ihn gebunden hatte. Für mich haben nach wie vor schiefe Häuser ihren ganz besonderen Charme, in denen ich gerne wohnen würde und nicht solche, die von einem stylischen Architekten konstruiert werden. Ich mag „Makel“. Andere würden vermutlich jetzt aufschreien und sagen „nie im Leben würde ich in so ein schiefes Haus einziehen!“ 

Und da sind wir auch schon an einem Punkt angelangt, der einmal näher betrachtet werden sollte.

Liegt Perfektion nicht im Auge des Betrachters?

Perfektion ist die individuelle Idealvorstellung, die im Kopf entsteht oder von gesellschaftlichen Normen auferlegt wird. Wenn wir noch einmal auf die Welpen zurückkommen: Laut Zuchtordnung und in den Augen des Züchters mag unsere Hündin „perfekt“ sein, die restlichen neun Welpen haben den einen oder anderen „Makel“ vorzuweisen, der laut Zuchtkriterien gerade noch akzeptabel ist. In ihrem Wurf scheint sie eine Ausnahme zu sein. Schaut man jedoch aus einer anderen Perspektive darauf, könnte man auch sagen, dass ein Fehler im Fell in diesem Wurf normal zu sein scheint, dass dieser Wurf also „perfekt“ ist, wie er ist und unsere Hündin demzufolge den „Makel der Perfektion“ mit sich herumträgt, weil sie eben keinen weißen Fleck auf der Brust mit sich herumträgt. So zum Beispiel würde ich es sehen. Aufgrund der auferlegten Zuchtnormen ist unser Welpe also perfekt, in meinen Augen jedoch nicht. 

Die persönliche Idealvorstellung von Dingen ist immer individuell. Aus diesem Grund ist es auch sehr schwer, quasi unmöglich, ständig perfekt zu sein. Es stellt sich die Frage, für wen oder was ich perfekt sein muss? Und wer bewertet dies überhaupt?

Das Streben nach Perfektion ist Teil von uns. Wir wollen perfekt aussehen, einen perfekten Job abliefern, ein perfektes Familienleben haben. Nie sind wir 100%-ig zufrieden. Perfektion bedeutet einen permanenten Wettbewerb auszutragen, mit sich selbst und mit seinem Umfeld. Und damit beginnt ein Teufelskreis aus Streben, Stress und Scheitern. Ich liefere meiner Meinung nach einen perfekten Job ab. Dem einen Kollegen gefällt es, dem anderen nicht. Warum ist das so? Und für wen will ich jetzt den perfekten Job liefern? Hier spielen die individuellen Vorlieben, Vorstellungen und Betrachtungsweisen eine Rolle. Ich fange an, an mir zu zweifeln. „Was hätte ich besser machen können, damit beide zufrieden sind?“ Und schon hänge ich in einer Dauerschleife aus Frust und Enttäuschung. Der Stress erhöht sich, weil ich es jedem recht machen will, um Anerkennung und Lob zu erhalten. Einen Fehler darf ich mir nicht leisten, Egal, was ich mache, es ist nie gut genug. Psychische Probleme wie Burnout, Depressionen, Essstörungen, Ängste und Zwänge sind da vorprogrammiert. Ich selbst habe auch in so einem Teufelskreis gesteckt und weiß, was es bedeutet, perfekt sein zu wollen und es doch nie zu erreichen. Interessant war hierbei, dass ich anderen ihr „unperfekt sein“ zugestanden habe, für mich diesen Anspruch jedoch nicht wahrgenommen habe. Ich musste lernen, dass ich meine Ansprüche und Maßstäbe nicht für andere, sondern nur für mich setzen muss, um mich weiterentwickeln zu können.

Salvador Dalí riet bereits zu seiner Zeit entspannt mit dem Thema Perfektion umzugehen: 

Hab keine Angst vor Perfektion – du wirst sie nie erreichen!

Als Maler war ihm schon damals bewusst, dass Perfektion einer individuellen Betrachtungsweise und subjektiven Bewertung zugrunde liegt.

Was steckt hinter Perfektionismus?

Perfektionismus ist stets auf das Außen gerichtet. Gedanken wie: „Was werden die anderen denken?“ oder „Hoffentlich mache ich keine Fehler. Dann habe ich versagt!“ sind dabei vorherrschend. Perfektionismus ist ein übertriebenes Streben nach Perfektion und Fehlervermeidung mit der Angst vor Bewertung und Kritik. Die Angst vor Ablehnung entsteht meist schon in der Kindheit, wenn das Kind lernt, dass es nur geliebt wird, wenn es Leistung erbringt.

Perfektionisten erfreuen sich weniger an erreichten Erfolgen, sondern haben nur den Blick für Fehler und Schwächen – sei es bei sich selbst oder bei anderen. Menschliche Fehler erhalten ein großes Gewicht, denn wer Fehler macht, wird automatisch zum Verlierer. 

Dahinter steckt häufig ein mangelndes Selbstwertgefühl. Perfektionisten, deren Ehrgeiz über ein gesundes Maß hinausgeht, sind der Meinung, dass ihre Selbstachtung und ihr Selbstwertgefühl vom Erfolg und der Akzeptanz und Bewunderung Anderer abhängig ist. Sie müssen nach außen ein perfektes Bild abliefern, um nicht als Versager zu gelten. Dies kann dazu führen, dass sie sich minderwertig fühlen und ein Gefühl von Scham entsteht, wenn Fehler gemacht werden.

Vor allem in den sozialen Netzwerken werden perfekte Körper, perfekte Welten, perfektes Wissen standardisiert dargestellt und geben vor, wie ein perfektes Leben auszusehen hat. Letztlich wird jedoch nur das dargestellt, was der User seine Follower sehen lassen will. Sie werden geblendet von einem makellosen Körper oder von perfekt inszenierten Beiträgen. Doch niemand weiß wirklich, was oder wer dahintersteckt. Denn ein Leben ohne Makel gibt es nicht! Wenn ich mir in den sozialen Netzwerken so manche Fotos ansehe, die zweifelsohne mit Photoshop bearbeitet wurden, komme ich mir schon etwas veralbert vor. Soll ich wirklich glauben, dass jemand so perfekt aussieht? Oder diese perfekten Beiträge, die man haufenweise lesen kann, alle ähnlich gestaltet sind. Für wen sind sie gemacht? Hat jemand festgelegt, dass man nur auf diese Weise Posts erstellen soll, um viele Follower zu generieren? Ich selbst habe mich dabei beobachtet, dass mir die Beiträge am besten gefallen, die anders sind, sich aus der Masse hervorheben, vielleicht auch mal einen Rechtschreibfehler beinhalten. Und mit Sicherheit bin ich nicht die Einzige, die so empfindet. Es ist daher illusorisch zu glauben, dass großartig gemachte Posts jedem in der angesprochenen Zielgruppe gefallen werden. Geschmäcker sind eben unterschiedlich!

Was nützen mir denn solche perfekten Posts, wenn sich hinter dem dargestellten makellosen Körper eine menschlich unmögliche Person verbirgt, oder dass sich hinter den mit Wissen und Kompetenz strotzenden Beiträgen jemand versteckt, der überhaupt keine Ahnung von dem hat, was er da geschrieben hat, nur weil er denkt, dass es gerade der große Hype ist? Oder was nützt mir denn ein äußerlich perfekter Hund, wenn er innerlich jedoch ein Biest ist? 

Wer kennt nicht die fehlerfrei gehaltenen Vorträge. Doch in Erinnerung bleiben meist solche, bei denen, aufgrund eines Verhasplers herzhaft gelacht wurde oder wenn sich in die Powerpoint-Präsentation ein falsches Bild hineingeschmuggelt hat. Mir geht es jedenfalls so.

Und damit kommen wir zurück auf die persönliche Sichtweise von Dingen. Sie können in den eigenen Augen noch so „perfekt“ sein, in den Augen anderer sind sie es jedoch nicht unbedingt. 

Ich persönlich habe auch so meine Makel, von denen ich mir manchmal wünschte, sie wären nicht da. Doch das bin eben ich. Ich möchte gar nicht perfekt sein Ich möchte keinen perfekten Körper, eine perfekte Familie oder ein perfektes Umfeld. Perfektion hat für mich persönlich etwas Unechtes. Es spiegelt etwas wider, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Es ist nicht authentisch! Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass es ausschließlich meine persönliche Sichtweise ist! Nichts auf dieser Welt ist perfekt. Guckt man in die Natur, entdeckt man unzählige Dinge, die anders, aber trotzdem wunderschön und natürlich sind. Weder das Leben noch ein Mensch ist jemals perfekt. Das liegt unter anderem auch am Wandel der Zeit. Was früher noch als Idealvorstellung gegolten hat, ist es heute nicht mehr und morgen wird es sich wieder geändert haben.

Ich mag Unvollkommenheit, ich mag Menschen um mich herum, die „Makel“ haben, denn das macht sie für mich spannend und interessant. Sie sind authentisch und stehen zu sich selbst.

Das Wort „Makel“ ist immer negativ besetzt. Die Definition dazu lautet: „Fehler, fehlerhafte Beschaffenheit von etwas, die etwas als unvollkommen erscheinen lässt, die seinen Wert herabsetzt. Etwas (Mangel, Fehler), was für jemanden in seinen eigenen Augen oder im Urteil anderer, als Schmach, als herabsetzend gilt.“ 

Kann dieses Wort nicht auch positiv gesehen werden? Für mich bedeutet „einen Makel zu haben“ anders zu sein, aber nicht fehlerhaft. Anders als die Norm zu sein ist ein gesellschaftliches Konstrukt, denn die Gesellschaft gibt vor, was normal ist. Doch genau daraus besteht das Leben! Das Leben ist bunt, vielfältig, wild. Da existieren viele Andersartigkeiten! Die sind es, die das Leben nicht langweilig, sondern spannend und aufregend machen. 

Die Perfektionisten unter uns werden jetzt aufschreien, wenn ich ketzerisch behaupte, dass auch übertriebener Perfektionismus als einen „Makel“ angesehen werden kann, da dieser ebenfalls nicht der Norm entspricht! Somit sind auch Perfektionisten nicht perfekt!

Achtsamkeit hilft gegen Perfektionismus

Ich möchte hier Perfektionismus gar nicht verdammen. Perfektionsdrang gepaart mit gesundem Ehrgeiz bringt dich im Leben weiter und führt auch zu Erfolg. Ungesund wird es jedoch, wenn der Leistungsdruck zu hoch, perfekt zu sein zwanghaft wird und du dich ausschließlich vom Urteil und der Bewertung anderer Menschen abhängig machst und dich dabei selbst verlierst. Gehe in diesem Fall achtsam mit dir um! Achtsamkeit hilft gegen Perfektionismus. Sie lädt dich ein, dich mit deiner Fehlerhaftigkeit und deiner Durchschnittlichkeit anzunehmen und zu akzeptieren, und wirkt deiner Gewohnheit entgegen, ständig etwas verändern oder verbessern zu müssen. 

Als Fazit bleibt mir nur zu resümieren, dass nichts um uns herum perfekt ist, wir selbst eingeschlossen, und dass Perfektion immer eine subjektive Idealvorstellung bleibt.

Ich bin mir sicher, dass meine Hündin auch ihre weißen Flecken haben wird, äußerlich oder innerlich und ich freue mich schon jetzt, sie zu entdecken und mich daran zu erfreuen! 

Unvollkommenheit ist absolut perfekt für mich!

Stresst dich dein Perfektionismus und du möchtest gelassener werden, sprich uns gerne an. Wir werden dich dabei unterstützen, achtsamer mit dir umzugehen. In unserer Online-Academy findest du dazu viele Anregungen und Übungen.

Deine Mel


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